Es ist ein Bild aus einer anderen Zeit: José „Pepe“ Mujica stieg in seinen alten VW Käfer ein und fuhr von dem kleinen Bauernhof in Rincón del Cerro in das Präsidentenbüro in Montevideo. Das Staatsoberhaupt bestand darauf, in seiner „chacra“ zu bleiben, verzichtete auf Staatslimousine und Chauffeur sowie auf 90 Prozent seines Präsidentengehalts. Den Rest spendete er Nichtregierungsorganisationen und kleinen Unternehmen. Die BBC bezeichnete ihn einmal als den „weltweit ärmsten Präsidenten“. In der Tat entstammt Mujica einer armen Bauernfamilie. Der Nachfahre baskischer und italienischer Einwanderer studierte eine Zeit lang Jura und gründete in den 60er Jahren zusammen mit ein paar Gefährten die linke Guerillabewegung, das Movimiento de Liberación Nacional, besser bekannt als Tupamaros. Insgesamt verbrachte er 14 Jahre im Gefängnis, davon lange Zeit in Einzelhaft. Mujica hatte zweimal zu fliehen versucht.
Nach dem Ende der uruguayischen Militärdiktatur (1973-1985) entstand aus den Tupamaros das Movimiento de Participación (MPP), für das Mujica 1994 ins uruguayische Repräsentantenhaus und später in den Senat gewählt wurde. Kurz nachdem der frühere Bürgermeister der Hauptstadt und Arzt Tabaré Vázquez vom Parteibündnis Frente Amplio, dem auch das MPP angehört, 2004 die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte, wurde Mujica Minister für Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei. 2009 wurde er schließlich selbst zum Präsidenten gewählt. Der einstige Untergrundkämpfer übte das Amt von 2010 bis 2015 aus, in das ihm wieder sein Vorgänger Vázquez folgte.
Nach 15 Jahren linker Vorherrschaft übernahm 2020 Luis Alberto Lacalle Pou das Amt des Staatschefs. Der konservative Politiker vom Partido Nacional (Blancos) ist beliebt. Doch eine direkte Wiederwahl des Präsidenten ist laut Verfassung ausgeschlossen. In der ersten Runde der Wahl am 27. Oktober holte Yamandú Orsi, Kandidat des Frente Amplio, die meisten Wählerstimmen. Der 57-Jährige kam auf einen Anteil von 46,2 Prozent. Sein Kontrahent, der Konservative Alvaro Delgado, kam auf 28,2 Prozent. Bisher war dieser die rechte Hand von Lacalle Pou. Im zweiten Durchgang am Sonntag kann er auf die Stimmen des Drittplatzierten Andrés Ojeda vom Partido Colorado zählen (16,9 Prozent). Für die Stichwahl wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet.
Auf den ersten Blick gibt es keine großen Unterschiede zwischen den beiden Kandidaten. Orsi kann als gemäßigter Sozialdemokrat eingestuft werden, das Haushaltsdefizit will er vor allem durch Wirtschaftswachstum ausgleichen. Der frühere Geschichtslehrer und „Intendente“ der Provinz Canelones stammt wie Mujica aus einfachen Verhältnissen und steht der ländlichen Gaucho-Kultur nah. Er setzt auf den Dialog mit dem derzeitigen Regierungslager, das aus den Traditionsparteien der Colorados und Blancos besteht.
Die Bilanz von Amtsinhaber Lacalle Pou ist durchaus zwiespältig. Seine Politik trägt deutlich eine neoliberale Handschrift. Bereits im ersten Jahr der Präsidentschaft setzte er steuerliche Maßnahmen durch, die vor allem reiche Ausländer begünstigen. Damit versuchte er Investoren anzulocken. Lacalle Pou führte außerdem eine Rentenreform durch, bei der das Renteneintrittsalter von 60 auf 65 Jahre angehoben wurde, und verfolgte das Ziel, die staatlichen Unternehmen zu privatisieren. Demonstrationen und ein Generalstreik waren die Folge. Trotzdem herrscht wenig Wechselstimmung. Die Wirtschaft, die auf das Agrobusiness und die Zelluloseproduktion aufbaut, ist relativ stabil. Das 3,4-Millionen-Einwohner-Land am Rio de la Plata hat nach wie vor die breiteste Mittelschicht des Subkontinents. Übrigens sprachen sich beide Stichwahlkandidaten gegen die von den Gewerkschaften geforderte Wiederabsenkung des Renteneintrittsalters aus. Letztere wurde bei dem Referendum, das parallel zum ersten Wahlgang stattfand, mehrheitlich abgelehnt.
Seine Kandidatur hat Orsi nicht zuletzt Pepe Mujica zu verdanken. Der Auftritt des charismatischen Ex-Präsidenten an seiner Seite war bewegend. Mujica verabschiedete sich dabei von seinen Anhängern. Im April hatte Mujica auf einer Pressekonferenz bekanntgegeben, dass er einen Tumor in der Speiseröhre hat. Zudem leidet er seit Jahrzehnten an einer Immunkrankheit. „Der Sensenmann ist in meinem Leben schon mehr als einmal um mein Bett geschlichen“, sagte er. „Nun spricht einiges dafür, dass er die Sense schon im Anschlag hat.“ Solange er könne, werde er militante Politik machen und seinen Überzeugungen treu bleiben. Auch werde er auf seinem Bauernhof arbeiten. An seine jungen Anhänger richtete er die Botschaft: „Wenn man im Leben etwas erreichen will, dann gibt es nur eins: Wenn du hinfällst, steh wieder auf und fang neu an. Und wenn du wütend bis, dann verwandle die Wut in Hoffnung. (…) Kämpft für die Liebe, lasst euch nicht vom Hass erfüllen.“
Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was Donald Trump repräsentiert. Dessen zweite Amtszeit als US-Präsident hat sicherlich Auswirkungen auf die Länder Lateinamerikas. Als sein Sieg bekannt wurde, sagte Mexikos linke Präsidentin Claudia Sheinbaum, sie hoffe auf gute Beziehungen mit dem großen Nachbarn – vor allem beim Thema Migration. Die USA setzen bereits auf Abschiebeabkommen mit einigen lateinamerikanischen Staaten, allen voran Mexiko. Der ebenfalls linke Präsident Kolumbiens, Gustavo Petro, betonte, die USA dürften den „Genozid“ in Gaza nicht unterstützen, und wies auch auf den Klimawandel hin. Ein wichtiges Thema für ihn ist zudem die Drogenproblematik.
Als großer Fan von Trump hat sich hingegen der argentinische Präsident Javier Milei erwiesen, der zudem einer der wenigen Präsidenten Lateinamerikas ist, die voll und ganz Israel unterstützen. Die beiden lobten einander gegenseitig, als der Argentinier an der Conservative Political Action Conference in Trumps Mar-a-Lago teilnahm. Letzterer nannte Milei seinen „Lieblingspräsidenten“. Dieser wiederum will sich die USA möglichst als Freihandelspartner sichern.
Auch Brasilien dürfte den Machtwechsel in Washington zu spüren bekommen. Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva, der einen Zollkrieg mit Trump möglichst vermeiden möchte, steht China nah, das unter ihm zu Brasiliens wichtigstem Handelspartner wurde. Das Reich der Mitte hat in den vergangenen beiden Dekaden seinen Einfluss in Lateinamerika, das einst als „Hinterhof der USA“ bezeichnet wurde, stetig erweitert. Beim Besuch von Staatschef Xi Jinping beim G-20-Gipfel in Rio de Janeiro hieß es, dass die Agrarhandelsbeziehungen zwischen China und Brasilien weiter ausgebaut werden sollen.
Lula will jedoch einen Zollkrieg mit Trump möglichst vermeiden. Trumps Comeback könnte auch Jair Bolsonaro wieder Auftrieb verschaffen, obwohl das Oberste Gericht dem „Tropen-Trump“ die Ausübung politischer Ämter und eine erneute Kandidatur verboten hat. Darüber hinaus dürfte der Zwist des Milliardärs Elon Musk mit Brasilien in eine neue Runde gehen: Lulas Frau Rosangela „Janja“ da Silva beschimpfte den Trump-Vertrauten während des G20-Gipfels in Rio de Janeiro, als sie eine Regulierung von Online-Netzwerken forderte. Die brasilianische First Lady sagte: „Fuck you, Elon Musk!“ Bundesrichter Alexandre de Morães hatte Ende August die Stilllegung von X in Brasilien angeordnet. Die Online-Plattform hatte sich zuvor u.a. geweigert, die Konten rechtsgerichteter Aktivisten, die Falschinformationen verbreiteten, zu sperren. Anfang Oktober wurde die Sperre wieder aufgehoben. Überhaupt scheint der designierte US-Präsident die extreme Rechte in Lateinamerika zu beflügeln. Trump sprach von Lula als einem „verrückten Linksradikalen“, während er Bolsonaro lobte. Wie die US-amerikanische Gesellschaft ist die brasilianische tief gespalten. Wie in Washington am 6. Januar 2021 auf das Capitol kam es zwei Jahre später zu einem Sturm auf das Parlament, das Präsidialamt und auf das Oberste Gericht.
Sozialer Kahlschlag mit Kettensäge
Es war einmal in Südamerika: Die Worte des 89-jährigen Pepe Mujica lassen die wehmütige Erinnerung an die große Zeit der lateinamerikanischen Linken aufkommen. Dem Populismus war Lateinamerika nie abhold, er gehörte neben dem autoritären Führungsstil zum Merkmal der Caudillos. Doch in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts waren es vor allem linkspopulistische Politiker, die den breiten Bevölkerungsschichten in den von Armut und Ungleichheit gebeutelten Ländern Hoffnung machten: etwa Hugo Chávez (Venezuela), Evo Morales (Bolivien), Rafael Correa (Ecuador), Lula da Silva (Brasilien) sowie Néstor und Cristina Kirchner (Argentinien), Pepe Mujica und Tabaré Vázquez (Uruguay). Ob zu betagt oder tot, im Exil oder mit einem Bein im Gefängnis, einfach nur machtlos oder wie Lula aufgrund der fehlenden Mehrheiten nicht in der Lage, eine wirklich linke Politik zu betreiben – ihre Zeit ist passé. Chiles linker Präsident Gabriel Boric und der kolumbianische Staatschef und Ex-Guerillero Gustavo Petro sind eher die Ausnahme.
Lateinamerika ist politisch gespalten. Auch wenn Bolsonaro abgewählt wurde und nicht mehr antreten darf, ist der Bolsonarismus geblieben. Mileis soziale Kahlschlag-Politik mit dem Symbol der Kettensäge sowie die Law-and-order-Politik des populären Nayib Bukele (El Salvador), der den Ausnahmezustand zum Dauerzustand gemacht hat, gelten heute als Musterbeispiele eines rechten Autoritarismus lateinamerikanischer Prägung. Sie haben in ihren Ländern die Hoffnungen auf soziale Reformen vorläufig zunichte gemacht.