Formal könnte es reibungsloser kaum gelaufen sein: Werden sonst die ersten Kommissionsanwärter bereits bei der Eingangsprüfung von möglichen Interessenkollisionen aus dem Rennen geworfen, schafften dieses Mal alle 26 Männer und Frauen die erste Runde ohne jede Beanstandung. Und auch die zweite große Hürde der mehrstufigen individuellen Kompetenzchecks beendeten letztlich alle künftigen EU-Kommissionsmitglieder mit einem grünen Haken. In der Vergangenheit hat das Europaparlament hier demonstrativ die Muskeln spielen lassen, und einzelne Regierungschefs gezwungen, Toppolitiker nachzunominieren, weil die ursprünglich Vorgeschlagenen entweder fachlich oder administrativ nicht reif für den Job schienen. Diesen Mittwoch dürfte dann die Kommissionszusammensetzung insgesamt das vorgeschriebene finale parlamentarische Okay bekommen. Aber Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kann mit dem Prozess trotzdem nicht zufrieden sein. Denn er liefert ein schlechtes Omen für ihre zweite Amtszeit.
Das hängt mit den neuen Mehrheitskonstellationen zusammen. Die „Ursula-Koalition“ aus von der Leyens erster Amtszeit bestand aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen, die zusammen eine komfortable Mehrheit hatten. Die ist seit den Wahlen weg. Um dieses Mal Kommissionspräsidentin zu werden, brauchte die deutsche CDU-Politikerin außerdem die Stimmen der Grünen. Hatten diese erwartet, als Gegenleistung nun in die informelle Zusammenarbeit einer von drei auf vier Fraktionen angewachsenen demokratischen Parlamentsmehrheit eingebunden zu werden, sind sie nun erneut außen vor. Wenn die Kommission nächste Woche endlich an den Start gehen kann, verdankt sie das nicht den Grünen, sondern den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR), den Rechtspopulisten von Italiens postfaschistischer Regierungschefin Giorgia Meloni.
Parteipolitik statt Qualitätscheck
Deren Kandidat für die Kommission, Raffaele Fitto, hätte beinahe dazu geführt, dass die EU in den Zeiten von Krieg, Krise und zweiter Trump-Präsidentschaft ohne neue Kommission in die Warteschleife geraten wäre. Denn Sozialdemokraten, Grüne und Linke wollten die Berufung Fittos zum Vizepräsidenten der Kommission ursprünglich unbedingt verhindern. Im Gegenzug drohten die Mitte-rechts-Kräfte jedoch damit, die spanische Sozialistin Teresa Ribera als Vizechefin der Kommission zu verhindern. Wachsende Widerstände gegen eine zweite Amtszeit für Viktor Orbáns Parteifreund Olivér Várhelyi machten das Knäuel unterschiedlicher, kaum zu entwirrenden Fäden parteipolitischer Interessen komplett. Die Parlamentsregie vertagte en bloc alle sieben noch nicht vollzogenen Personalien.
Das stand im Widerspruch zur eigentlichen Rolle des Parlamentes beim Qualitätscheck der Bewerber und lief auf eine Partei-Politisierung der Kommission hinaus. Und damit kam es wieder auf die an, die schon die ersten Absprachen über die Vergabe der Spitzenposten nach der Wahl ausgehandelt hatten: Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale. Denn die Grünen stellen keinen einzigen Regierungschef in Europa. Die drei Kräfte hatten sich auf eine christdemokratische Kommissionspräsidentin, einen sozialdemokratischen Ratspräsidenten und eine liberale Außenbeauftragte verständigt – und Metsola zugesichert, dass ihr Land ebenfalls einen herausgehobenen Posten in der Kommission bekommen würde.
EVP hat auf ihrer Rechten eine weitere Machtoption
Doch als es konkret wurde, kam die Brandmauer-Debatte mit ins Spiel: Sollen die Rechtspopulisten wirklich ins Zentrum der Macht in Brüssel aufrücken dürfen? Die Reflexe von Mitte-links sagten klar Nein. Doch die Machtoptionen von EVP-Chef Manfred Weber rieten ihm zum Ja. Konnten SPD, Liberale, Grüne und Linke in der letzten Wahlperiode stets auch ihre Politik gegen die EVP durchdrücken, hat Weber jetzt einen rechten Hebel, um EVP-Positionen ohne Mitte-links Gesetz werden zu lassen. Aus Sorge um ihre Ribera-Verankerung an der Spitze der Kommission und angesichts der realen Befürchtung, Orbán könne bei einer Zurückweisung Varhélyis den Amtsantritt der Kommission um weitere Monate blockieren, fanden sich Sozialdemokraten, Liberale und Christdemokraten zu einer schriftlichen Übereinkunft zusammen. Sie macht es möglich, aus den Fraktionen der Rechtspopulisten mit denjenigen zusammenzuarbeiten, die eindeutig pro Rechtsstaat, pro Europa und pro Ukraine aufgestellt sind. Die Grünen bringt das zum Schäumen: „Würdelos“ seien die Sozialdemokraten, schimpfte Grünen-Klimaexperte Michael Bloss.
Wie wenig diese neue Von-der-Leyen-Mehrheit in der operativen Politik tatsächlich wert ist, zeigt sich parallel zum Entstehen der Kommission bei der Novelle der Entwaldungsgesetzgebung. Die EVP hat es mit dem rechten Hebel geschafft, nicht nur eine Verschiebung, sondern auch eine inhaltliche Entbürokratisierung zur Parlamentsposition zu machen. Doch Sozialdemokraten und Grüne machen nun vor und hinter den Kulissen mobil und haben es geschafft, dass der Ministerrat erst einmal nicht mitmacht, obwohl die Zeit extrem drängt. Fraglich ist zudem, ob sich die EKR, wie von Weber gewünscht, widerstandslos auseinanderdividieren lässt. Das erscheint für die Zeit nach der Fitto-Entscheidung als sehr fraglich.
Von der Leyen bekommt so einen Vorgeschmack davon, wie brüchig das Fundament ist, auf dem sie ihre zweite Amtszeit aufzubauen versucht.