Mit der zunehmenden Wolfspopulation in der Schweiz kommt es vermehrt zu Konflikten mit der Landwirtschaft. Der Bund ermöglicht deshalb die Regulierung des Bestandes. Natur- und Tierschutzverbände wehren sich gegen Abschüsse.
Neuste Entwicklungen
- Ein Bündner Wildhüter hat bei einem Einsatz zur Wolfsregulation versehentlich drei Luchse erschossen. Der Fehler sei am 16. November in der Surselva geschehen, wie der Kanton Graubünden am Dienstag (26. 11.) mitteilte. Der Wildhüter suchte nach den verbleibenden drei Wolfswelpen des Vorabrudels, die Anfang September zum Abschuss freigegeben worden waren. Stattdessen erschoss er zwei Jungluchse und ein erwachsenes männliches Tier. Der Wildhüter habe den Vorfall unverzüglich gemeldet und Selbstanzeige erstattet. Eine strafrechtliche Untersuchung sei eingeleitet worden. Der betroffene Wildhüter wird bis zur Klärung des Vorfalls von der Wolfsregulation ausgeschlossen. Der Eurasische Luchs ist bundesrechtlich geschützt und gilt als Art von sehr hoher nationaler Priorität.
- Im Kanton St. Gallen sind am vergangenen Wochenende zwei Jungwölfe aus dem Schilt-Rudel im Grenzgebiet zum Kanton Glarus erlegt worden. Das Rudel riss in diesem Jahr gemäss Mitteilung mehrere geschützte Schafe auf verschiedenen Alpen im Schils- und im Weisstannental. Somit sei die Regulation des Schilt-Rudels für dieses Jahr beendet, schrieb der Kanton St. Gallen am Dienstag (22. 10.) in einer Mitteilung. Am 1. Oktober verfügte er den Abschuss von zwei Jungwölfen aus diesem Rudel, nachdem der Bund dies bewilligt hatte. Weiterhin anstehend sei die Regulation des Calanda-2-Rudels, welche zusammen mit dem Kanton Graubünden angestrebt werde. Auch dort sind zwei Jungwölfe zum Abschuss freigegeben.
- Zwei Drittel der Jungwölfe des Rügiul-Rudels in Südbünden dürfen bis zum 31. Januar getötet werden. Dies ist dem kantonalen Amtsblatt vom Dienstag (1. 10.) zu entnehmen. Dabei soll auf eine sogenannte vergrämende Wirkung geachtet werden. Die Wölfe sollen direkt aus dem Rudel, möglichst nahe an Nutztierherden, Siedlungen oder stark von Menschen genutzten Anlagen geschossen werden. Abschüsse an Orten, an denen dieser Lerneffekt fehlt, seien zu vermeiden. Dabei handelt es sich um eine Verfügung, die im Dezember 2023 von Naturschutzorganisationen gestoppt worden war. Pro Natura, WWF Schweiz und Birdlife Schweiz beantragten damals vor dem Bundesverwaltungsgericht eine aufschiebende Wirkung.
Derzeit leben in der Schweiz laut der Stiftung Kora 35 Wolfsrudel, neun davon sind grenzüberschreitend auch in den Nachbarländern Italien und Frankreich unterwegs (Stand: 2024). Ihre Zahl ist in den letzten Jahren stark gewachsen, ebenso die Anzahl Rudel.
Wolfsrudel haben sich in den Alpen in den Kantonen Graubünden, Wallis, St. Gallen, Glarus und Tessin sowie im Waadtländer Jura gebildet. Als Rudel werden allgemein vergesellschaftete Gruppen von mindestens drei Wölfen beider Geschlechtern definiert. Meist handelt es sich dabei um sich fortpflanzende Familienverbände. Mit umherstreifenden Wölfen muss mittlerweile im ganzen Alpenraum gerechnet werden. Sogar im Mittelland tauchen inzwischen in regelmässigen Abständen Einzeltiere auf.
Der Wolf ist ein Raubtier und jagt bevorzugt wildlebende Huftiere. Seine Hauptbeutetiere in der Schweiz sind der Rothirsch, die Gemse und das Reh. Auch Wildschweine, einige Nagetiere und einige Kleinsäuger gehören in sein Beuteschema.
Immer wieder kommt es auch zu Angriffen auf Nutztiere. Wo ungeschütztes Kleinvieh weidet, wird dieses bevorzugt gerissen, wie die Gruppe Wolf Schweiz schreibt. Als Wildtier erbeute der Wolf automatisch das, was er am leichtesten bekomme. Fehlende (weggezüchtete) Fluchtinstinkte der Tiere und Zäune, die eine Flucht verunmöglichten, erlaubten dem Wolf ein leichtes Erbeuten von Nutztieren.
Besonders Schafe und Ziegen werden gerissen. Mit 94 Prozent machen Schafe den mit Abstand grössten Anteil an getöteten Nutztieren aus, vor Ziegen mit fünf Prozent. Grössere Tiere, wie Rinder oder Pferde, werden hingegen nur selten von Wölfen getötet.
Betrachtet man die Gesamtzahlen, ist es mit der wachsenden Wolfspopulation in den letzten Jahren auch zu mehr Rissen an Nutztieren gekommen. Im Kanton Wallis etwa hat sich die Zahl der Wölfe seit 2018 mehr als verdoppelt. Auch die Zahl der Nutztierrisse stieg in den letzten Jahren kontinuierlich an. Waren es 2019 noch 205 Nutztierrisse, stieg die Zahl bis 2022 auf 415. Allerdings wurde der grösste Teil der getöteten Tiere auf ungeschützten Alpen gerissen.
Die Anzahl Risse pro Jahr sind in der Schweiz aber nicht nur vom Wolfsbestand abhängig. So gab es auch Jahre mit besonders vielen Schäden trotz tiefem Wolfsbestand. Laut Kora zeigt dies, dass auch andere Faktoren, wie etwa der Einsatz von Herdenschutzmassnahmen, eine wesentliche Rolle für die Entwicklung der Schäden an Nutztieren spielen.
Zahlenmässig hat der Wolf für die Sterblichkeit der auf Schweizer Alpweiden gehaltenen Schafe aber nach wie vor eine untergeordnete Bedeutung. So werden nur sechs Prozent aller Todesfälle während des Alpsommers durch Grossraubtiere verursacht. Krankheit und Unfälle wie Abstürze, Steinschlag oder Blitzschlag sind die weitaus häufigeren Todesursachen.
Nach den ersten grösseren Schäden an Nutztieren durch den Wolf ab 1995 sammelten Nutztierhalter und Behörden Erfahrungen mit unterschiedlichen Herdenschutzmassnahmen. Als besonders wirksam gelten inzwischen Herdenschutzhunde und elektrische Zäune, häufig auch in Kombination mit einer Behirtung.
Wirksame Herdenschutzmassnahmen sind allerdings arbeits- und zeitintensiv und benötigen je nach Herdengrösse mehrere Arbeitskräfte und Hunde. Der Bund fördert anerkannte Massnahmen zum Herdenschutz, also geeignete Herdenschutzhunde und Elektrozäune, finanziell. Das Geld stammt aus dem Budget des Bundesamtes für Umwelt (Bafu). Die Kantone sind für die Beratung zuständig. Eine Pflicht, die vom Bund anerkannten Massnahmen zum Herdenschutz zu ergreifen, besteht nicht.
Eine von der Stiftung Kora und der landwirtschaftlichen Beratungszentrale Agridea durchgeführte Studie konnte zeigen, dass die bisher in der Schweiz angewendeten Schutzmassnahmen (Herdenschutzhunde, Abschüsse von schadenstiftenden Einzelwölfen) in den meisten Fällen wirken.
Bei gut bewachten Herden hat der Wolf selten die Chance, ein Nutztier zu erwischen. Laut der Studie kann aber auch ein guter Herdenschutz Risse durch Wölfe nie ganz verhindern, sondern nur minimieren. Schwierig wird es für den Herdenschutz in unübersichtlichem oder unwegsamem Gelände sowie bei schlechtem Wetter, Nebel oder sonst schlechter Sicht. Wölfe sind zudem lernfähig. Sie können Herdenschutzmassnahmen umgehen und sich auf das Reissen von Nutztieren spezialisieren.
Mehr zur Debatte um die Wirksamkeit des Herdenschutzes lesen Sie hier.
Das Konzept Wolf Schweiz legt fest, dass Schäden an geschützten Nutztieren und landwirtschaftlichen Kulturen durch Wölfe gemeinsam vom Bund (80 Prozent) und vom jeweiligen Kanton (20 Prozent) bezahlt werden. Die Angaben zu den gerissenen Nutztieren müssen die Kantone jeweils bis Ende Oktober an den Bund weiterleiten. Das Konzept legt zudem fest, dass schadenstiftende Wölfe unter bestimmten Bedingungen zum Abschuss freigegeben werden können. Auch bei Rudeln, die Schäden anrichten, können je nachdem Abschüsse vorgenommen werden.
Bei Wölfen und Wolfsrudeln, die sich problematisch verhalten und trotz Herdenschutz Schäden verursachen oder Menschen gefährden, sind Abschüsse möglich.
Um der schwierigen Situation in Gebieten mit stark wachsendem Wolfbestand gerecht zu werden, hat der Bundesrat am 1. November 2023 eine neue Jagdordnung beschlossen. Demnach dürfen die Raubtiere ab sofort jedes Jahr zwischen dem 1. Dezember und dem 31. Januar abgeschossen werden. Neu ist auch, dass die Kantone Wölfe «proaktiv» schiessen dürfen, also bevor diese einen Schaden an Nutztieren anrichten («reaktiv»).
Ob sie in den Wolfsbestand eingreifen möchten oder nicht, liegt im Ermessensspielraum der Kantone. Notwendig ist aber weiterhin eine Zustimmung des Bundes. Diese ist an verschiedene Bedingungen geknüpft. Abschüsse sind nur erlaubt, wenn Herdenschutzmassnahmen Risse an Nutztieren nicht verhindern können und solange das Fortbestehen der Wolfspopulation gesichert ist. Sobald eine Gefahr nachweisbar ist, dürfen Kantone künftig allerdings auch ganze Rudel abschiessen. Das neue Jagdgesetz steht somit für einen Paradigmenwechsel in der Wolfspolitik: Der Bundesrat gewichtet künftig den Schutz von Hab und Gut höher als den Schutz des Raubtiers.
Das Parlament erhört mit der Reform auch die Forderungen der Landwirte, die auf eine rasche Umsetzung der ständerätlichen Vorlage drängen. Der Schweizerische Alpwirtschaftliche Verband hatte sich ebenso dafür ausgesprochen wie die Regierungskonferenz der Gebirgskantone.
Auch innerhalb der neuen Jagdordnung bleibt der Wolf eine geschützte Art. Nach Vorgabe des Bundesrats müssen weiterhin mindestens 12 Wolfsrudel in der Schweiz leben, was einer Population von rund hundert Wölfen entspricht. So viele Wölfe lebten zuletzt 2020 in der Schweiz. Seitdem ist die Population exponentiell gewachsen, auf rund 32 Rudel und insgesamt 300 Tiere.
Bericht: Der Bundesrat gewichtet den Schutz von Hab und Gut höher als den Schutz des Raubtiers
Wie das Verhalten von Wölfen gegenüber Menschen einzuordnen ist, hat der Bund im Konzept Wolf Schweiz definiert. Dabei unterscheidet er vier Verhaltenskategorien: von «unbedenklich» über «auffällig» und «unerwünscht» bis hin zu «problematisch (mit Potenzial zur Gefährdung von Menschen)». Letztgenanntes ist ein Grund für Eingriffe in den Wolfsbestand.
Grundsätzlich geht für den Menschen von einem gesunden wildlebenden Wolf aber keine Gefahr aus, wie die Stiftung Kora schreibt. Die Tiere betrachten den Menschen nicht als Beutetier und meiden normalerweise Begegnungen mit ihm. Auf Menschen reagierten die Tiere in der Regel mit äusserster Vorsicht und nicht aggressiv.
Dennoch gibt es bestimmte Faktoren, die das Risiko eines Angriffs erhöhen.
- Tollwut: Die meisten Berichte über Angriffe aus früheren Jahrhunderten zeigen, dass sich das aggressive Verhalten auf tollwütige Wölfe zurückführen lässt. Die Schweiz und die meisten Länder Europas sind heute tollwutfrei.
- Gewöhnung: Verlieren Wölfe die Scheu vor Menschen, beispielsweise durch Anfüttern, kann dies zu problematischem Verhalten führen.
- Provokation: Wird ein Wolf in die Enge getrieben und provoziert, kann er sich mit Bissen wehren.
Seit der Wolf 1995 in die Schweiz zurückgekehrt ist, ist es noch nie zu Angriffen auf Menschen gekommen. Dennoch ist es wichtig, bei Begegnungen mit Wölfen bestimmte Regeln zu beachten. Der Kanton Graubünden hat für solche Fälle die wichtigsten Verhaltensregeln hier zusammengefasst. Die wichtigste Regel sei, ruhig zu bleiben und den Wolf mit bestimmter Stimme auf sich aufmerksam zu machen. Bemerke ein Wolf Menschen, ziehe er sich in aller Regel zurück oder fliehe. Hunde müssten an der Leine gehalten werden, denn Wölfe erachteten sie als Eindringlinge oder Beutetiere.