Ein junger Mann erschiesst die Ex-Politikerin auf offener Strasse. Mit ihrem kompromisslosen Kampf für die ukrainische Sprache machte sich Farion viele Feinde. Aber steckt Moskau hinter dem Mord?
![Ein Mann trägt ein Bild von Irina Farion an der Beerdigung in Lwiw am Montag.](https://img.nzz.ch/2024/07/23/9e145698-62b3-4243-9fc5-687fd9cd29da.jpeg?width=750&height=500&fit=bounds&quality=75&auto=webp&crop=5568,3712,x0,y0)
Ein Mann trägt ein Bild von Irina Farion an der Beerdigung in Lwiw am Montag.
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Als die Trauernden am Sonntag den Sarg von Irina Farion durch Lwiw tragen, nehmen Tausende Abschied. 48 Stunden zuvor hat ein Mann die Sprachwissenschafterin auf offener Strasse mit einem Kopfschuss niedergestreckt. Die Tat erschütterte die relativ friedliche Stadt in der Westukraine. Präsident Selenski schickte gleich den Innenminister, den Polizei- und den Geheimdienstchef nach Lwiw zur Aufklärung.
Farion war nicht einfach eine Akademikerin, die sich in über 200 Publikationen mit der ukrainischen Sprache auseinandergesetzt hatte. Die 60-Jährige war auch eine der bekanntesten Publizistinnen und Politikerinnen – eine, die stark polarisierte: Mit heiligem Furor setzte sie sich für alles Ukrainische ein und legte eine radikale Intoleranz für alles Russische an den Tag. Farion lebte im Kampfmodus und teilte nach vielen Seiten aus. Ihr Leben war stets von Skandalen und persönlichen Fehden mit zahlreichen öffentlichen Figuren begleitet.
Russischsprachige waren für Farion Sklaven oder Besetzer
Die Lwiwerin konnte der Idee einer mehrsprachigen Ukraine nie etwas abgewinnen. Jene, die russisch sprachen, waren für sie «Sklaven oder Besetzer» und sollten keine Ausbildung erhalten, wenn sie nicht ins Ukrainische wechselten. Die ungarische Minderheit in Transkarpatien sah sie als «Idioten», die «zurück nach Ungarn» müssten. In einem berüchtigten Video riet sie 2010 Kindergärtnern, die ukrainische statt die russische Verkleinerungsform von «Maria» zu verwenden. Sonst sollten sie nach Russland gehen, «wo all die Maschas wohnen».
Der Mord an Irina Farion löst in der Ukraine grosse Bestürzung aus.
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Farion verstand ihren Einsatz für die ukrainische Sprache als Mittel der Selbstverteidigung eines Volkes, das über Jahrhunderte unter einem russischen Kolonialsystem gelebt hatte. 2005 trat sie der rechtsextremen Partei Swoboda bei, die in der Westukraine eine gewisse Bedeutung besitzt. 2012 trug der Widerstand gegen den prorussischen Präsidenten Janukowitsch sie ins nationale Parlament. Sie wurde zwei Jahre später nach der Maidan-Revolution wieder abgewählt. Die Positionen ihrer Partei waren nicht einmal in Ansätzen mehrheitsfähig.
Farion misstraute dem gesamten ukrainischen Staatswesen, das sie als korrumpiert und von russischen Agenten durchsetzt betrachtete. Ihre eigene Biografie war allerdings auch nicht über alle Zweifel erhaben: So musste sie 2013 einräumen, Ende der achtziger Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen zu sein, nachdem sie dies stets in Abrede gestellt hatte.
Mit Russlands Invasion 2022 veränderte sich die politische Landschaft erneut: Die Gesellschaft rückte im Zeichen der gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen zusammen. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westukraine, zwischen Russisch- und Ukrainischsprachigen verloren an Bedeutung. Viele Menschen entschieden ganz ohne gesetzliche Vorgaben und öffentliche Zensoren wie Farion, die «Sprache der Invasoren» nicht mehr zu sprechen.
Student auf der Krim dem FSB ausgeliefert
Farion aber blieb ihrer Linie treu. Sie führte ihre Sendung am Fernsehen weiter. Auf Youtube wurden ihre Videos über ukrainische Geschichte, Kultur und Sprache bis zu eine halbe Million Mal angeschaut. Die grösste Öffentlichkeit erreichte sie aber mit Skandalen. So veröffentlichte sie Foto und Name eines proukrainischen Studenten auf der Krim, mit dem sie korrespondiert hatte. Der russische Geheimdienst FSB verhaftete diesen und zwang ihn, sich öffentlich von seinem Heimatland loszusagen.
Dann legte sich Farion mit dem Asow-Regiment an, das in der Ukraine einen Heldenstatus geniesst. Sie griff dessen russischsprachige Soldaten heftig an. «Wenn sie nicht ukrainisch sprechen, sollen sie sich doch Russen nennen», wütete sie. «Wieso sind die denn so verrückt?» Die Aussagen führten zu einem Sturm der Entrüstung, da Farion offen den Patriotismus jener verneinte, die an vorderster Front für ihr Land kämpften. Der Inlandgeheimdienst eröffnete ein Verfahren gegen sie, ihre Universität entliess die Professorin nach Studentenprotesten. Vor Gericht erstritt sich Farion jüngst ihre Wiedereinstellung.
Farion war eine Person, welche die Ukraine spaltete. Entsprechend ambivalent lesen sich manche Nachrufe: Bekannte Aktivisten wie Serhi Sternenko lassen denn auch trotz der Verurteilung des «Terroraktes» durchscheinen, dass sie wenig von Farion hielten. Nur Einzelne, vor allem aus den Reihen ihrer Partei, verklären sie zur nationalen Heldin.
Eine «russische Spur» der Mörder?
Am Donnerstag meldeten die Behörden die Verhaftung eines 18-Jährigen in der Stadt Dnipro, den sie 139 Stunden lang gejagt hätten. Es scheint sich um jenen Mann zu handeln, dessen Fahndungsfoto bereits Anfang Woche publiziert wurde: Hinter einem Hut und einer Sonnenbrille versteckt, soll er wochenlang den Wohnblock Farions ausgekundschaftet haben.
Auch wenn über seine Motivation offiziell noch nichts verlautete, prüfen die Behörden das Bekennervideo einer Neonazi-Organisation, auf dem der Mord zu sehen ist. Geteilt wurde es auch über den Kanal der russischen Gruppe «NS/WP Crew», die nationalsozialistische Ideen vertritt. Der Autor des Videos sagt, der einzige Krieg, den es geben dürfe, sei ein Krieg der Rassen, und nennt Farion eine Verräterin. Ob es sich um die wirren Phantasien eines Einzelnen handelt oder dahinter eine grössere Organisation steht, ist unklar.
Damit bleibt auch offen, ob sich die «russische Spur», auf die unter anderem der ukrainische Innenminister zu Beginn verwiesen hatte, wirklich erhärtet. Dass der Kreml Farion hasste, überrascht nicht. Sie verkörperte für ihn jenen «ukrainischen Faschismus», den die Russen angeblich bekämpfen. Dennoch gäbe es deutlich lohnendere Ziele für die russischen Geheimdienste als eine relativ marginale Figur wie Farion.
Für die Ukrainer im ruhigen Westen des Landes erschüttert die Tötung Farions jedenfalls das relative Sicherheitsgefühl, in dem sie während der letzten zwei Jahre lebten. Die Rückkehr politisch motivierter Gewalt in die Öffentlichkeit markiert eine Zäsur – egal, ob dahinter der lange Arm Moskaus oder wachsende gesellschaftliche Spannungen stehen.
Die Rückkehr politisch motivierter Gewalt auf die Strassen der Westukraine markiert eine Zäsur.
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