Die traditionsreiche Wiler Schule St. Katharina diskriminiere Buben und sei für staatliche Förderung zu katholisch, urteilen die Lausanner Richter. Nach scharfer Debatte entscheiden sie knapp.
Die Sekundarschule, auf welche die Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter einst ging, muss sich neu aufstellen. Das Bundesgericht hat am Freitag entschieden, dass die katholische Mädchenschule St. Katharina in Wil (SG) nicht verfassungsgemäss betrieben werde. Sie diskriminiere Buben, und sie sei konfessionell nicht neutral genug. Geklagt hatten die Jungen Grünen Wil und zwei Privatpersonen.
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Die Sekundarschule, bis 2016 im Besitz des Klosters St. Katharina, gehört zwar einer privaten Stiftung, aber arbeitet im öffentlichen Auftrag der Stadt Wil und erhält Subventionen. Deshalb gelten laut dem Bundesgericht die Grundsätze für die öffentliche Schule in der Schweiz ebenso für das «Kathi», wie die Schule auch genannt wird. Wichtige Teile von dessen Schulvertrag mit der Stadt Wil sind somit hinfällig.
Es ging grundsätzlich ums Schweizer Schulwesen
Das Gericht beriet den Fall öffentlich, offenbar wegen dessen grundsätzlicher Bedeutung und wegen der Uneinigkeit der Richter. Es gehe um «fundamentale Fragen», nämlich um die «Vorstellung von Schule in der Schweiz», sagte die Vorsitzende Richterin Florence Aubry Girardin. Die Präsidentin sollte mit ihrer Stimme letztlich den Ausschlag geben: Das Urteil fiel mit drei zu zwei Stimmen.
So bunt wie im Bonmot «Zwei Juristen, drei Meinungen» trieb es das Bundesgericht am Freitag zwar nicht. Aber es war bemerkenswert, wie Richter anhand identischer Fakten zu diametral entgegengesetzten Schlussfolgerungen gelangen können. Im Kern ging es um zwei Fragen: Lässt sich Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in einer öffentlichen Schule rechtfertigen? Und wie religiös darf eine öffentlich subventionierte Schule sein, wenn sie doch – wie der Staat – konfessionell neutral sein muss?
Die Berichterstatterin Julia Hänni plädierte dafür, die Klage nur aufs Nötigste zu prüfen. Es gehe nicht darum, ob das Bundesgericht diese oder jene Regelung besser finde, sondern einzig darum, was die Verfassung sage. Dabei sei Rücksicht auf den Schweizer Föderalismus zu nehmen, sprich auf die Autonomie von Gemeinden und Kantonen, verlangte Hänni, die der Partei Die Mitte angehört. Das St. Galler Verwaltungsgericht hatte sich bereits mehrfach mit dem Fall befasst.
Hännis Nebenmann, Matthias Kradolfer von der FDP, sah das ähnlich. Das Bundesgericht müsse eine «rosarote Brille» anziehen – es solle «von rechtstreuen kantonalen Behörden ausgehen». Kradolfer erinnerte daran, dass die Vereinbarung zwischen der Stadt und der Schule dem Gemeindeparlament vorgelegt werden müsse und dem fakultativen Referendum unterstehe; sie verfüge somit über erhebliche demokratische Legitimation. «Das Bundesgericht muss die Wilerinnen und Wiler nicht vor sich selbst schützen.»
Schüler sollen selbst entscheiden, ob und was sie glauben
Ganz anders argumentierten die drei anderen Richter der Zweiten Öffentlichrechtlichen Abteilung. Stellvertretend dafür stand Marianne Ryter – ein SP-Mitglied –, die ihrem Gegenbericht zur Berichterstatterin Hänni einen völlig anderen Fokus gab. Ryter betonte die Bedeutung des Grundrechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit, und daraus abgeleitet die Wichtigkeit der konfessionellen Neutralität in der Schule.
Schüler seien oft leicht beeinflussbar, und sie seien über lange Dauer dem Einfluss von Lehrern ausgesetzt. Zum Ziel der freien Persönlichkeitsentwicklung gehöre es, seine eigene Religiosität zu entwickeln und zu leben – oder nicht. Deshalb dürften religiöse Akzente in der Schule ein gewisses Mass nicht überschreiten.
Auch zum Ausschluss von Jungen am «Kathi» positionierte Ryter sich deutlich. Dieser werde gerechtfertigt mit der Förderung von Mädchen zum Ausgleich historischer Benachteiligungen – dabei sei die gesellschaftliche Diskussion längst weiter: So werde über die Diskriminierung von Knaben diskutiert und darüber, ob es genügend männliche Lehrer gebe. Zudem gehöre es zu den Schweizer Bildungszielen, sich «mit dem anderen Geschlecht, mit anderen Identitäten» zu befassen.
Diese grundsätzlichen Überlegungen warfen konkrete Fragen zur Mädchenschule in Wil auf: Wie religiös ist der Schulalltag? Wie freiwillig ist die Teilnahme an den katholischen Aktivitäten? Und wie freiwillig gehen die Schülerinnen überhaupt aufs «Kathi»?
Pilgerfahrten seien freiwillig, argumentierten zwei Richter
Auch hier zeigte sich eine erstaunliche Diskrepanz zwischen den Richtern. Hänni und Kradolfer gingen von einer freiwilligen Einschulung und freiwilliger Teilnahme am religiösen «Zusatzangebot» aus, zu dem Gottesdienste, Pilgerfahrten und eine «Assisi-Woche» gehören. Die anderen drei Richter verwiesen auf den sozialen Druck, der eine Nichtteilnahme der Schülerinnen an der «christlichen Werteschule», wie das «Kathi» diesen Teil seines Angebots nennt, quasi verunmögliche.
Der parteilose Richter Yves Donzallaz verwies ausserdem darauf, dass die Stadt Wil nicht genügend Schulplätze habe. Sie sei somit darauf angewiesen, dass Schülerinnen auf das «Kathi» gingen. Die Stadt behalte sich sogar die Möglichkeit vor, Schülerinnen dazu zu verpflichten. Dies zu ignorieren, sei intellektuell unaufrichtig, sagte Donzallaz in Richtung des FDP-Mannes Kradolfer. «80 Prozent der Ausführungen des Kollegen Kradolfer fallen in sich zusammen.»
Es blieb nicht die einzige Kollegenschelte. Die Richter äusserten sich zunehmend schärfer, teilweise genervt. Sie warfen sich vor, die Rechtsprechung zum Thema nicht zu kennen, sie falsch zu verstehen oder bewusst zu ignorieren. Wenn Donzallaz Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zitiere, solle er das bitte vollständig tun, sagte etwa Hänni.
Auch inhaltlich waren die Vorwürfe heftig. Hänni vertrete eine «extrem konservative Sicht auf Bildung, wie sie in der Schweiz noch vor 40, 50 Jahren vorherrschte», sagte Donzallaz. Die Vorsitzende Richterin Aubry Girardin pflichtete dem, weniger drastisch, bei – sie selbst habe noch in eine reine Mädchenschule gehen müssen.
Sollen alle Religionen eigene Schulen haben?
Die knappe Mehrheit des Gerichts warf Hänni und Kradolfer schliesslich vor, die Konsequenzen eines positiven Urteils für das «Kathi» zu ignorieren: Dann könnten Vertreter aller Religionen für ihre Schulen einen öffentlichen Bildungsauftrag samt Geld verlangen. Das sei wohl kaum Sinn der Sache.
Wie es nun für die Mädchenschule St. Katharina – und die beiden weiteren ähnlichen Schulen im Kanton St. Gallen – weitergeht, scheint fraglich. Die schriftliche Urteilsbegründung des Bundesgerichts dürfte dazu in den kommenden Wochen Anhaltspunkte liefern. Denkbar scheint eine Öffnung der Schule für Jungen – oder das Ende des öffentlichen Bildungsauftrags samt Subventionen.