Wenn es um prägende Erfindungen ging, hatte Europa ab dem Spätmittelalter die Nase vorn: Vom Buchdruck bis zur Dampfmaschine sind dem Kontinent zahllose Fortschritte gelungen. Warum?

Ein Gemälde zeigt einen Dampfhammer in einer Giesserei in Manchester im Jahr 1832. Die Dampfmaschine war die Grundlage für die Industrialisierung der Welt.
Imago
Unter den Historikern des 19. Jahrhunderts gilt Jacob Burckhardt als der grosse Skeptiker gegenüber allem Vertrauen auf den Fortschritt. Für die Geschichtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels, die von der Prämisse ausgeht, dass Vernunft die Welt beherrscht, es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei und am Ende alles gut werden müsse, hatte Burckhardt nur Verachtung übrig.
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Etwa gleichzeitig mit Marx diagnostizierte er die Metamorphose der vorindustriellen Wirtschaftsstruktur zur dynamischen Expansion des Industriekapitalismus. Dass sich, wie er schrieb, zu seiner Zeit eine «Theorie der wachsenden Vervollkommnung», des «sogenannten Fortschritts», geltend machte, gefiel ihm nicht.
In einer Vorlesung über «Alte Geschichte», die er 1854/55 hielt, bemerkte er: «Sobald man einmal weiss, dass es keine glücklichen, Goldenen Zeitalter gegeben hat, bleibt man frei von der törichten Überschätzung irgendeiner Vergangenheit oder vom törichten Verzagen an der Gegenwart und von törichter Hoffnung auf die Zukunft.»
Geopolitische Einordnung im Überblick
Kurzgefasst: Europas historischer Vorsprung in Technik und Wissenschaft war kein Zufall, sondern das Ergebnis struktureller Voraussetzungen: politische Vielfalt, Rechtsstaatlichkeit, Bildungseinrichtungen, kultureller Austausch und die Reduktion religiöser Macht.
Geopolitische Einschätzung: Diese Faktoren gaben westlichen Gesellschaften einen langfristigen Vorteil. Sie konnten Wissen systematisch sammeln, Innovationen vorantreiben und Technologien global einsetzen.
Blick voraus: Künftiger Fortschritt wird sich dort entfalten, wo freie Gesellschaften Forschung, Kritik und Vielfalt fördern und Innovationen verantwortungsvoll einsetzen. Demokratien haben hier ein Vorteil gegenüber Autokratien.
Die dunklen Seiten der Moderne sah er deutlicher als die meisten seiner Zeitgenossen. Er kritisierte die Herrschaft des Geldes, beklagte das «räderschnurrende Elend» der Fabriken und die Ausbeutung der Natur. «Hätte das Mittelalter die Erdoberfläche ausgenützt wie wir, so wären wir vielleicht gar nicht mehr vorhanden», schrieb er um 1872: «Ob es schade um uns wäre?» Und ist es schon «Fortschritt», wenn sich «Verkehr im weitesten Sinn» verdichtet, «bis hin zum Welteisenbahn- und Welttelegraphennetz, grosser Verbreitung von mancherlei Wissen»?
Konkret zielte Jacob Burckhardts Kritik immer wieder auf eine Bahnbrecherin der industriellen Welt: die Eisenbahn. Inzwischen würden wir «mehr und mehr vereisenbahnt», klagte er. So werde Basel mit Bahnbauten umgarnt, dass einem öde und weh werde. «Dämme, Durchstiche und ein ewiges Pfeifen und Heulen, das ist unsere Zukunft.» Als eine der Folgen sah er die «Erschöpfung der Erdoberfläche». Aussagen wie diese begründeten den Ruf des Basler Historikers als «Propheten». Sicher ist, dass die Lektüre seiner Schriften in pessimistische Zeiten wie die unsere passt.
Euphorie über den Bau des Gotthardtunnels
Bei allen Vorbehalten gegenüber verbreitetem Fortschrittstaumel konnte Burckhardt einem wahrhaft schweizverändernden Eingriff in den Lauf der Dinge Positives abgewinnen: dem Gotthardtunnel. Im August 1878, da waren es keine zwei Jahre mehr bis zum gefeierten Durchbruch, schrieb er aus dem Renaissancestädtchen Mantua: «Ich meinerseits fände die Vollendung des Gotthard vorzüglich deshalb wünschbar, weil wir dann wohlfeilen italienischen Wein, und zwar in Masse, bekämen.» Nie über fünfzig Centimes kostete ein köstlicher Tropfen in Mantuas Trattorien, «wofür man in Basel nur noch ein elendes Getränk bekömmt». Der weise Ironiker – und Alkoholiker – Burckhardt brachte damit einen hilfreichen Begriff von Fortschritt ins Spiel: Es ist gut, wenn guter Wein billig ist. Wenigstens einen solchen Effekt bringt die verabscheute «Vereisenbahnung», ein Stück technischer Fortschritt, mit sich.
In der Tat ist es zweifellos besser, wenn ein Gerät funktioniert, als wenn es nicht funktioniert. Und ein Medikament, das wirkt, ist einem, das nicht wirkt, vorzuziehen. Ohne Impfungen und die Verfügbarkeit von Antibiotika würden noch immer Abermillionen an Pocken, Pest und anderen Infektionskrankheiten sterben.
Das Kindbett zum Beispiel war bis ins späte 19. Jahrhundert die gefährlichste Gegend, in der sich Neugeborene und ihre Mütter aufhielten. Hier drohte nicht weniger Todesgefahr als auf Schlachtfeldern. Noch im 18. Jahrhundert überlebte jedes fünfte Baby seine ersten zwölf Monate nicht.
Anders als heute, wo das Gebirge, das die Statistik auftürmt, wenn sie Mortalität darstellt, erst im Abenddämmer des Alters den Himmel berührt, hatten die Menschen vermeintlich «guter alter Zeiten» ein prekäres Dasein: Da sind die hohen Sterberaten am Anfang, in den ersten Lebensmonaten, zu verzeichnen. Dann sinkt die Kurve ab, zeigt eine Ebene: Man starb meist nicht erst im hohen Alter. Der Tod lauerte immer. Eine Infektion zum Beispiel, der heutige Medizin rasch den Garaus machen würde, mordete einst ebenso rasch und ungehindert.
Fortschritt, das sind Medikamente, Impfstoffe und Therapien, die dazu beitrugen, dass sich in vielen Ländern seit dem 19. Jahrhundert die Lebensspannen dramatisch verlängerten. Es war übrigens Burckhardts vermaledeite Eisenbahn, die Anteil an diesem Erfolg hatte. Sie ermöglichte raschere und günstigere Getreidetransporte und half, Hungerkrisen zu überwinden.
In der Neuzeit fand der Fortschritt im Westen statt
Blicke in die Geschichte lehren, welche Umstände günstig für Fortschritt auf technischen und wissenschaftlichen Feldern waren und welche nicht.
Was als Erstes auffällt, ist, dass nahezu alle Durchbrüche zwischen Hochmittelalter und 20. Jahrhundert im Westen erfolgten, in einigen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten. Kein wirklicher «Paradigmenwechsel» – keine fundamentale Veränderung der Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Erklärungsmodelle – hatte seinen Ort jenseits Europas.
Das Paradebeispiel bietet die kopernikanische Wende, die die Erde im 16. Jahrhundert aus der Mitte des Kosmos wuchtete und die Sonne an ihre Stelle setzte. Und auch die Industrielle Revolution, undenkbar ohne die vorangegangene wissenschaftliche Revolution, war ein europäisches Ereignis. Ohne sie wäre die westliche Moderne eine andere, übrigens kaum eine bessere Moderne. Der Wirtschaftshistoriker Eric Jones sprach vom «europäischen Wunder».
Fortschritte in Technik und Wissenschaft fanden in Europa offensichtlich besonders günstige Bedingungen. Kluge Köpfe gab und gibt es überall, Kapital und Muskelkraft auch anderswo. Was war im Westen anders?
Manche Experten meinen, es seien die aus der Ausbeutung des Rests der Welt gewonnenen Profite gewesen, die die Erfolge des Westens in Wirtschaft, Wissenschaften und Technologie ermöglicht hätten. Kurz und bündig liest sich das in einer neueren – im Übrigen bewundernswerten – Geschichte der USA, Jill Lepores «Diese Wahrheiten», folgendermassen: «Vor 1492 litt Europa unter Mangel und Hungersnöten. Nach 1492 verliehen die gewaltigen Reichtümer, die durch die Zwangsarbeit von Afrikanern aus der Erde geholt und von Amerika nach Europa gebracht wurden, den dortigen Regierungen neue Macht, die zum Aufstieg der Nationalstaaten beitrug.»
Tatsächlich wurde Europa noch lange nach den Fahrten des Kolumbus von Hungersnöten heimgesucht. In Allianz mit Seuchen forderten sie zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert Millionen von Opfern. Mörderische Hungerkrisen erlebten unter anderem die Jahre zwischen 1770 und 1772 und die späten 1840er Jahre. Kurz, die Ursachen der europäischen Erfolge waren viel komplexer, als die Formel «Aufstieg durch Ausbeutung» suggeriert.
Viele Faktoren begünstigten den europäischen Fortschritt
Viel musste zusammenkommen, damit es zu den Revolutionen kam, die unsere Welt bis heute prägen. Besonders wichtig war, dass sich in vielen Ländern des Westens seit dem Mittelalter vergleichsweise offene Gesellschaften formierten, in denen sozialer Aufstieg weniger durch engmaschige Netzwerke Verwandter, Verschwägerter und durch mächtige Patriarchen behindert wurde. Blutsbande waren auch hier oft wichtiger als Geist und Leistung, doch öffneten sich eher Spielräume für Konkurrenz.
Günstig fürs Erfinden und Entdecken war Europas politische Vielfalt, die sich mit dem Untergang des römischen Imperiums herausgebildet hatte. Unzählige Staaten und politisch verhältnismässig selbständige Städte drängten sich auf engem Raum. Zersplitterung, das hiess: viele grosse und kleine Höfe, bald auch viele Universitäten und weitere Stätten der Bildung – und damit Patronagechancen wie nirgendwo sonst auf der Welt. Hatte man zu weit oder zu wild gedacht, gab es viele Fluchtmöglichkeiten.
Auch waren die Chancen auf Belohnung für Erfindungen, auf Gewinn und Prestige, in Europa besser als anderswo. Nach Anfängen im Florenz der Frührenaissance machte das englische Patentrecht die Idee zum Eigentum ihres «ersten und wahren Erfinders». So steht es im 1624 verabschiedeten Statute of Monopolies.
Auch die Geografie spielte eine Rolle für Europas Sonderstellung. Kein unüberwindbares Gebirge, kein Ozean unterbrach Verkehrsverbindungen und erschwerte es, von Asien zu lernen. Kultureller Austausch – oft in Allianz mit Handelsbeziehungen – zählte zu den entscheidenden Bedingungen des europäischen Mirakels.
Es waren arabische Gelehrte, die Europa einen guten Teil griechischen Wissens vermittelten, dessen Rezeption für Europas Karriere von fundamentaler Bedeutung war. Ein weiteres Beispiel für folgenreiches Lernen von anderen Kulturen bieten die «arabischen» Zahlen, die eigentlich indischen Ursprungs sind. Über Bagdad drangen sie, die epochale Idee der Null inklusive, nach Europa vor.
Lange Wege hatte auch das Papier hinter sich. Von China her erreichte der Stoff, aus dem ein gutes Stück Moderne gemacht ist, über Zentralasien und Bagdad zuerst Spanien und Italien. Ab dem 14. Jahrhundert, fast anderthalb Jahrtausende nach seiner Erfindung, wurden auch in Deutschland Papiermühlen errichtet.
Die weltumstürzende Wirkung des Buchdrucks
Für den Erfolg des Buchdrucks war die Verfügbarkeit von Papier unerlässlich. Der alternative Beschreibstoff, Pergament, wird aus Tierhäuten gefertigt, ist aufwendig in der Herstellung und entsprechend teuer. Um eine einzige Wochenendausgabe der NZZ auf Pergament zu drucken und in heutiger Auflagenhöhe zu vertreiben, bedürfte es einiger hunderttausend Kälber, Ziegen oder Schafe. Ein vielleicht entscheidender Grund, warum die wohl wichtigste Erfindung zwischen Mittelalter und Moderne in Europa ihre Premiere hatte, ist der Umstand, dass hier Alphabetschriften zur Verfügung standen. So konnte mit einer Handvoll wiederverwendbarer Zeichen gearbeitet werden.
In China, wo viel früher mit Druckverfahren experimentiert worden war, fiel dieser Vorteil weg, da das Chinesische Abertausende von Wortzeichen verwendet. Und auch die Spindelpresse, ebenso wichtig wie die mobilen Drucktypen für den Erfolg der Neuerung, war eine europäische Errungenschaft. Ihr Prinzip liess sich den Winzern absehen, die ihre Trauben in Gutenbergs Mainz mit ähnlichem Gerät pressten; es war wohl eine Erbschaft der Römer, die einst um Rhein und Main gesiedelt hatten.
Ihre wahrhaft weltumstürzende Wirkung konnte die neue Technologie aber nur entfalten, weil sie einen Markt fand: des Lesens kundige soziale Schichten – Adel, Klerus, Bürger –, die auch die nötigen Mittel hatten, um das anfangs noch immer ziemlich teure Produkt zu erwerben.
Günstig fügte sich zudem, dass die Europäer über Brillen verfügten. Die Sehhilfen gestatten auch älteren Menschen zu lesen. Und da die Alten meist mehr Geld besitzen als die Jungen, vermehrten bebrillte Ältere auch die Zahl der Käufer auf dem Buchmarkt. Ausserhalb Europas war die Brille kaum verbreitet. Noch im späten 17. Jahrhundert staunte der chinesische Dichter Kong Shangren über das Wunderding «von jenseits der Westlichen Meere», das es ihm ermöglichte, zu sehen «gerade wie in meiner Jugend».
Die durch den Buchdruck ausgelöste Medienrevolution wurde zu einem mächtigen Motor für weitere Erfindungen und Entdeckungen, weiteren Fortschritt. Anders als in Zeiten mühsamen Abschreibens mit der Hand wurden Wissen und Meinungen für Tausende, schliesslich Millionen verfügbar. Ohne den Buchdruck hätte es wohl keine wissenschaftliche Revolution gegeben.
So aber fand Johannes Keplers 1619 erschienene «Weltharmonik» – ein für Mathematik-Unkundige schwer verständliches Werk – mit Isaac Newton über ein halbes Jahrhundert später im fernen London einen Leser, dem sich die bahnbrechenden Einsichten des Autors erschlossen. Das Werk bot ihm die Grundlage für die Entwicklung seiner Gravitationstheorie.
Die Erkenntnisse Kopernikus’, Galileis, Keplers, Newtons und anderer beeinflussen unseren Alltag bis heute. Ohne sie gäbe es zum Beispiel keine Raumfahrt und damit auch keine Satelliten, keine Navis, weniger genaue Wetterprognosen – allerdings auch keine Spionage vom Himmel herab, die nicht nur Kriege verhindern, sondern sie auch vorbereiten kann.
Der Machtverlust der Kirche begünstigte den Aufstieg Europas
Ein bedeutender Standortvorteil der meisten Staaten des Westens war und ist, dass in ihnen die Macht der Religion im Lauf eines langen Prozesses eingedämmt werden konnte. Wissenschaft und Glauben pflegen ja nicht immer gute Nachbarschaft. Das klassische Beispiel dafür, dass sie sich nicht immer gut vertragen, bietet der Inquisitionsprozess gegen Galilei. Doch nicht nur Rom hielt das kopernikanische Weltbild für ketzerisch. Auch Luther hatte es mit Hinweis auf die Bibel abgelehnt.
Wie ungünstig die Übermacht von Religion für die Wissenschaften sein kann, könnten Blicke ins fromme Byzanz zeigen, ins nicht minder fromme Spanien der Gegenreformation oder auch in Staaten unserer Zeit, in denen der Islam Staatsreligion ist, Glaubenswächter Frauen mit Kopftüchern behängen und Reden und Schreiben strenger Zensur unterworfen sind. Iran, ein Land mit neunzig Millionen Einwohnern, hat keinen einzigen Nobelpreisträger in wissenschaftlichen Fächern vorzuweisen – gegenüber bisher 21 in der kleinen Schweiz.
Toleranz ist gut für Fortschritt, weil sie dem Denken freieren Flug erlaubt. Europas grausame Lehrmeister waren die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie zählten zu den Voraussetzungen einer Maxime der Aufklärung, dass nämlich – mit den Worten des Preussenkönigs Friedrich II. – jeder nach seiner Façon selig werden sollte.
Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verbriefte die Religionsfreiheit; der zwei Jahre darauf verabschiedete erste Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung verbot dem Kongress die Einführung einer Staatsreligion. Auch die Mutter aller Freiheiten und aller Toleranz, die Demokratie, war von ihren griechischen Anfängen an fast bis an die Schwelle der Moderne ein ausschliesslich westliches Projekt.
Und zumindest bis an die Schwelle unserer Zeit fanden wissenschaftliche und technische Fortschritte in Demokratien, die Rechtlichkeit pflegen, weltanschaulich neutral sind und über Institutionen verfügen, die all das zu bewahren haben, die besten Voraussetzungen.
Die Griechen waren es auch, die Europa als vielleicht folgenreichstes Erbe den Geist der Kritik hinterliessen, wie ihn der sokratische Dialog demonstriert. Er zeigt, dass Zweifel eher zu Erkenntnis führt als Glaube. Fragen, Weiterfragen und Infragestellen der Antworten – das kann Falsches als falsch entlarven und Annäherung an Wahrheiten ermöglichen.
Ebendas ist die Kerntugend aller Wissenschaft und Voraussetzung allen Fortschritts. Das Prinzip nahezu grenzenloser Kritik im Umgang mit Meinungen und Behauptungen, das die Griechen in Europa verankert hatten, führte schon in der Renaissance zu spektakulären Ergebnissen. Es half, Denkmodelle, die über Jahrtausende ihre Schatten über die Wissenschaften geworfen hatten, zu zerstören, zum Beispiel die geozentrische Kosmologie des Ptolemäus.
Die Zukunft ist für Europa vielversprechend
Natürlich ist Fortschritt nicht einfach «gut»; er hat in der Regel unerwünschte Nebenwirkungen. Schon das Buch verlor bald seine Unschuld: Man konnte mit Gutenbergs Jahrtausenderfindung eben nicht nur die Bibel verbreiten. 1487, kaum mehr als zwei Jahrzehnte nach Erscheinen der Gutenberg-Bibel, wurde der Hexenhammer gedruckt, ein Werk, das dazu beitrug, unschuldige Frauen und Männer auf den Scheiterhaufen oder an den Galgen zu bringen.
Hymnen auf Europa, auf den Westen sind jedenfalls nicht angebracht. Daran hindert schon die Erinnerung an die Verbrechen, die Kolonialisten und Imperialisten verübten, an den von Europäern erfundenen und praktizierten Rassismus. Technischer Fortschritt brachte auch das militärische Gerät hervor, das es Europäern ermöglichte, die halbe Welt zu unterwerfen, Millionen auszubeuten, zu versklaven, zu morden. Es ist nicht die Innovation , die Probleme verursacht, sondern das, was Menschen mit ihr anstellen.
Wenn die These zutrifft, dass Demokratien dem Neuen, dem Fortschritt und konkret Patenten und preiswürdigen Erkenntnissen und Erfindungen ein besseres Umfeld bieten als korrupte Diktaturen und Oligarchien, dann ist es vielleicht um die Zukunft Europas nicht ganz so schlecht bestellt, wie sie Burckhardt – schwankend zwischen Melancholie, Ironie und Sarkasmus – einst zeichnete.
Ein Leben in der Welt vor den wissenschaftlichen und technischen Revolutionen zwischen Mittelalter und Moderne wäre nicht einmal dem ärgsten Feind zu wünschen: Es war für die meisten ein prekäres Dasein, in Hunger, Mangel, Schmerzen und Schmutz.