Wladimir Putin möchte die russischen Universitäten ideologisch gleichschalten. Die Indoktrination junger Menschen mit «Putinismus» ist eine der Hauptaufgaben des heutigen russischen Bildungssystems.

Die Zeit verstreicht und bleibt doch stehen: Nach dem Untergang der UdSSR sind die Universitäten – im Bild die Moskauer Staatsuniversität – nicht frei geworden.
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Vor einigen Jahren kam ich in der Schweiz an der Universität Freiburg mit Studenten russischer Herkunft ins Gespräch und erzählte ihnen, dass während meiner Studienzeit, in den achtziger Jahren, eines der obligatorischen Grundlagenfächer der sogenannte «wissenschaftliche Kommunismus» gewesen sei. Ich sah in ihren Augen einen Schatten des Unglaubens, und dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. Ich hatte seit längerem nicht mehr Menschen ausser Rand und Band gesehen, sie krümmten sich vor Lachen. Kommunismus? Wissenschaftlich? Das ist ja wahnsinnig witzig, so, als ob es Non-Science-Fiction gäbe, archaisch und grausam.
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Mittlerweile aber sind dreissig Jahre ins Land gegangen, und an den Universitäten meiner Heimat ist der «wissenschaftliche Kommunismus» durch eine Disziplin ersetzt worden, die man als «wissenschaftlichen Putinismus» bezeichnen kann – er lehrt die «Grundlagen der russischen Staatlichkeit».
Der «wissenschaftliche Putinismus» kommt noch archaischer daher, im Sinne des klassischen ultrakonservativen Diskurses, der den Sonderweg des russischen Volkes und dessen messianische Rolle als «Staatszivilisation» behauptet. Der «wissenschaftliche Kommunismus» baute zumindest auf einer elementaren Theorie des Marxismus auf, auf den Grundlagen marxistischer Philosophie und Politikwissenschaft, während es hier um nichts weiter als um die Privattheorien einiger marginaler Denker geht, die vom russischen Staat einen einträglichen Sinnauftrag erhalten haben und sich im Zusammenbasteln nationalistischer, orthodoxer und imperialer Mythologie ergehen.
Absitzen und vergessen
Früher war all dies die Domäne randständiger national-patriotischer Publikationen, aber jetzt handelt es sich um staatlichen Mainstream. Und es gibt mindestens zwei Versionen des «Grundlagen»-Kurses – für geisteswissenschaftliche und technische Universitäten. Es ist wahr, dass die meisten Studenten die neue Disziplin auf die gleiche Weise behandeln wie wir damals den «wissenschaftlichen Kommunismus» in der Sowjetära – absitzen und vergessen, ohne sich auf die Details einzulassen. Die Propagandawirkung ist minimal.
Die Indoktrination junger Menschen mit «Putinismus» ist eine der Hauptaufgaben des heutigen russischen Bildungssystems. Ohne den Universitäten die akademischen Freiheiten zu nehmen und die Studenten ideologischen Vorgaben zu unterwerfen, kommt man hier nicht weiter. Säuberungen an den Fakultäten gehen nicht selten mit freiwilligen Abgängen einher – die besten und klügsten Köpfe haben Russland verlassen oder haben sich von selbst von der Lehre zurückgezogen.
Das ist zum Beispiel an der Higher School of Economics der Fall, der grössten sozioökonomischen Universität, die einst als Alma Mater des russischen Liberalismus galt. Wer in Russland geblieben ist und nicht wegen der Kritik am Krieg oder der liberalen Haltung (die sich mit den beruflichen Anliegen deckt) entlassen wurde, versucht, weiterzuarbeiten. Doch das geht nicht ohne Risiko.
Viele russische Universitäten haben sogenannte «Ethikkodizes» eingeführt, welche Kritik an den Behörden ausdrücklich untersagen. Es gibt zudem einige Universitäten, denen eine Art «Kommissar» – ein Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche – zugeteilt ist.
In den Universitäten hängt immer noch viel vom Rektor ab. Wenn er notgedrungen Kompromisse eingeht, aber das Niveau der Lehre auf hohem Niveau hält, rettet er die Ausbildung. Manchmal macht sogar der Name eines einzigen charismatischen Professors den weiterhin guten Ruf der Fakultät aus.
Solche Unabhängigkeit von Universitätsleitung und Professorenschaft kann aber auch das Gegenteil bewirken. An der Moskauer Staatsuniversität finden sich Abweichungen jeglicher Qualität. So lehrt etwa die Fakultät für Soziologie absoluten Obskurantismus. In den Materialien für den Kurs «Soziologische Expertise» heisst es beispielsweise, dass «sovest» (Gewissen) nur dem russischen Volk eigne und dieses Wort daher nicht in andere Sprachen übersetzbar sei.
Erstaunliche Eintracht
An derselben Universität, die immer noch die grösste des Landes ist, bewegt sich die Ausbildung an den naturwissenschaftlichen Fakultäten nach wie vor auf hohem Niveau. Sogar historische Traditionen werden bewahrt – so etwa der Tag des Physikers (auch Archimedes-Tag genannt), der seit 1960 begangen wird und frei von jeglicher ideologischer Belastung ist, ein Exempel für die in dunklen Zeiten erstaunliche Eintracht von Studenten und Professoren.
Kleine Berufsuniversitäten, an denen auf Weltklasseniveau gelehrt wurde und an denen viele Professoren Ausländer waren, genossen vor dem Krieg ein hohes Ansehen. Nach Beginn der Katastrophe gaben viele der Dozenten ihr Lehramt auf, und viele wurden auch entlassen. Die Universitäten selbst überlebten – ihre Leitung schloss Kompromisse mit Behörden und Kontrollorganen. Die Professoren, die blieben, arbeiten weiter.
Dies gilt zum Beispiel für die Europäische Universität in St. Petersburg. Die Moskauer Schule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (die zu Ehren ihres Gründers nach Teodor Shanin benannt wurde) tauschte ihre Leitung aus, und viele ihrer berühmten Professoren wurden entlassen, die Struktur aber funktioniert weiter. Das Gleiche gilt für die New Economic School (NES), eine der besten Wirtschaftsuniversitäten Russlands – und das, obwohl wichtige Persönlichkeiten sie verlassen haben und sogar wegen ihrer Antikriegshaltung verfolgt werden.
Viele Universitäten indes verlieren an Boden, wie etwa die Russische Staatliche Universität für Geisteswissenschaften, an der die Höhere Politische Schule Iwan Iljin angesiedelt ist. Sie wird von dem dämonischen «Philosophen» Alexander Dugin geleitet, der das Fach «Westernology» in den Bildungsprozess einführt, um Schäden und Gefahren der westlichen Zivilisation aufzuzeigen.
Iwan Iljin (1883-1954).
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Der Name Iwan Iljin kommt nicht von ungefähr. Die Oktoberrevolution trieb ihn ins deutsche und ins Schweizer Exil, er begrüsste das Auftauchen Hitlers (obwohl er später selber unter dem Naziregime zu leiden hatte), und er vertrat ultranationalistische Ansichten, die man als faschistisch einstufen kann. Wenn Putin in seinen Reden einen Philosophen zitiert, dann Iljin.
Trotz allen Schwierigkeiten haben sich Elemente einer qualitativ hochwertigen Bildung in den grossen russischen Universitäten bewahrt. Was einst als Nachteil erschien – zu viele Fakultäten, Forschungszentren und Institute –, erweist sich nun als Vorteil. Man kann nicht alles auf einmal säubern und schliessen, ohne die Bildung per se zu beeinträchtigen. Allen Professoren, die unverdrossen in Lehre und Forschung ausharren, gilt Respekt. Ebenso jenen hochrangigen Universitätsverwaltern, die nichts unversucht lassen, um ihre echten Fachleute zu «decken».
Eine militarisierte Wirtschaft braucht technische Fachleute. Kaum oder keinen Bedarf haben die Behörden an Geisteswissenschaftern – statt ihnen braucht man Politik-Technologen und Propagandisten. Wenn früher das prestigeträchtigste Feld der praktische Bereich der Juristen und Ökonomen war, träumt heute jeder davon, den Beruf als IT-Fachmann zu ergreifen. Allerdings herrscht in diesem Bereich krisenbedingt ein personelles Überangebot.
In drastischem Tempo ändern sich die Prioritäten im Bildungsbereich. Das fängt damit an, dass Oberstufenschüler dazu ermutigt werden, nach der 9. Klasse (die Sekundarstufe in Russland besteht aus elf Klassen) auf sogenannte «Colleges» zu gehen, in erster Linie, um sich beruflich zu spezialisieren und schnell in den Arbeitsmarkt einzutreten.
Dringend gesucht: Ingenieure
Das Ministerium für Aufklärung berichtet erfreut, dass immer weniger Schüler eine vollständige Schulausbildung absolvieren und mehr auf «Hochschulen» gehen – zu Sowjetzeiten hiessen solche Einrichtungen «Berufsschulen» und galten als wenig prestigeträchtig. Der Präsidentenberater Wladimir Medinski, ehemaliger Kulturminister und Autor der verabscheuungswürdigen, aber obligatorischen «einheitlichen» stalinistischen Geschichtslehrbücher für Gymnasien, stellte kürzlich fest, die 11. Klasse sei heute ein inakzeptabler Luxus.
Was die Hochschulbildung betrifft, die der Staat auf diese Weise bewusst diskreditiert, wird die Einschreibung an technischen und naturwissenschaftlichen Universitäten gefördert – Putins Regime braucht Ingenieure, und der militärisch-industrielle Komplex leidet unter Fachkräftemangel. Übrigens kommt die Hochschulbildung dem Staat auch anders in die Quere: Wer an einer staatlichen Universität studiert, wird nicht in die Armee eingezogen.
Die «Souveränisierung» des Bildungswesens durch das Regime findet nicht nur im inhaltlichen Bereich, sondern auch in der Struktur statt: Ab 2026 wird das Bologna-System in Russland endgültig ausser Kraft gesetzt, und die Universitäten werden fortan ein «einzigartiges» russisches Modell pflegen. Dennoch wird dieses Modell nicht dem sowjetischen ähneln: Man kann die Begriffe «Bachelor» und «Master» abschaffen, weil sie aus dem «unfreundlichen» Westen stammen, aber die Hochschulbildung wird zweistufig organisiert sein – das Grund- und das Fachniveau werden erhalten bleiben.
Ich frequentiere ziemlich oft Cafés in einem der Moskauer Stadtteile, wo es viele Universitäten gibt, vor allem medizinische. Wenn ich mich mit einem Kaffee, einem Croissant und dem Laptop in einer gemütlichen Ecke niederlasse, bin ich von zahlreichen Studenten umgeben. Das Einzige, was mich von ihnen unterscheidet, ist das Alter. Sie konzentrieren sich aufs Lernen, ich konzentriere mich auf die Arbeit. Diese jungen Leute unterscheiden sich in nichts von Studenten jeder beliebigen Universität auf der Welt. Was mich abhebt, ist mein Brandzeichen, mein demütigender Status als «ausländischer Agent» – Menschen wie mir hat der Staat verboten, zu lehren.
Es ist klar, dass viele, sehr viele von ihnen gehen werden, um ihr Studium im «unfreundlichen» Westen fortzusetzen, so wie es mein eigener Sohn getan hat. Ich hoffe, dass sie irgendwann heimkehren. Dann, wenn Russland aus dem Loch herausgezogen werden muss, in das hinein es Putin und seine Kumpels versenkt haben. Ich möchte auch nicht, dass sie weggehen – irgendjemand muss ja hierbleiben und arbeiten. Und doch wünsche ich ihnen, vor allem den Jungen, dass sie gehen, einfach weil sonst einige zu überzeugten Putinisten werden und ein Bleiben für andere gefährlich machen. Der Staat macht Jagd auf sie, wenn nicht als Spezialisten, dann als frisches Kanonenfutter.
Andrei Kolesnikow ist Journalist, politischer Kommentator und Buchautor (so hat er eine Biografie des Reformers Jegor Gaidar verfasst). Er lebt in Moskau, ist Kolumnist von «The New Times» und schreibt für die Online-Zeitung «Nowaja Gaseta». – Aus dem Englischen von A. Bn.